Montag, 4. August 2008

Schneller als sein Schatten

Jeder, der eine deutsche Polizeiausbildung absolviert hat, dürfte vermutlich zu irgendeinem Zeitpunkt von irgendeinem Ausbilder diese altbekannte und gern wiedergekäute "Weisheit" vorgesetzt bekommen haben... "Laßt die Waffe im Holster; wenn ihr die Hand an der Waffe habt, seid ihr genauso schnell wie wenn ihr die Waffe in der Hand haltet."

Ich habe diese Aussage schon lange für sehr zweifelhaft gehalten und mir deswegen letzte Woche mal die Mühe gemacht, ihre Unrichtigkeit umfassend nachzuweisen. Nach einigen hundert Schuß und etlichen DIN-A4-Seiten voller Zahlenreihen stand fest: der zeitliche Unterschied der benötigten Zeit vom Startsignal bis zum gezielten Schuß zwischen diesen beiden Varianten ist nicht nur meßbar, sondern teilweise sogar beträchtlich.

Selbst unter optimalen Bedingungen (ruhiger, gut beleuchteter Schießstand, kein Entscheidungsdruck, kein Streß, Kenntnis des Übungsablaufs, Holster geöffnet, Waffe bereits im Holster angehoben, kürzeste Schußentfernung) beträgt der Unterschied noch mehr als eine halbe Sekunde. Bei komplexeren Aufgaben (Ziehvorgang bei geschlossenem Holster ohne Hand an der Waffe) steigerte er sich auf über eine Sekunde. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um vorauszusagen, daß die Rahmenbedingungen im Ernstfall vermutlich noch deutlich ungünstiger aussehen dürften und im Einzelfall zu Ziehzeiten von mehreren Sekunden führen können.

Um die zeitlichen Abläufe mal in ein anschauliches Verhältnis zu stellen: der sattsam bekannte sogenannte Tueller-Drill hat gezeigt, daß in der Zeit, in der ein einigermaßen brauchbarer Schütze unter optimalen Bedingungen ohne Vorbereitung seine Waffe ziehen und einen Schuß abgeben kann (~1,5 Sekunden), ein Angreifer aus dem Stand die Strecke von etwa sieben Metern zurücklegen kann. Natürlich läßt sich diese Erkenntnis nicht 1:1 auf tatsächliche Handlungskonzepte umsetzen, weil die Optionen des Beamten ja nicht auf "Stillstehen und Waffe ziehen" beschränkt sind, aber als "Laborexperiment" führt es die situationsrelevanten Weg-Zeit-Verhältnisse recht eingehend und dramatisch vor Augen und zeigt, daß eine Sekunde mehr oder weniger in gewalttätigen Konflikten einen gewaltigen Unterschied machen kann.

Unter diesen Umständen müssen wir uns überlegen, ob die oft betriebene Praxis, unsere Waffe prinzipiell im Holster zu belassen und nur bei einer festgestellten definitiven Bedrohung zu ziehen, in jeder Situation angemessen ist, oder ob wir uns im Fall eines überraschend auftretenden Angriffs damit nicht eventuell unnötigen Gefahren aussetzen. Wir sollten dabei nicht vergessen, daß wir als die "reagierende" Seite einem von sich aus "agierenden" Angreifer gegenüber ohnehin schon zeitlich gewaltig im Nachteil sind.

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