Mittwoch, 7. Januar 2009

One-shot stop

Ich bin seinerzeit während meiner Polizeiausbildung noch in den Genuß gekommen, im Winter bei frostigen Temperaturen auf einem Freiluftschießstand der Bundeswehr auf die üblichen Pappziele zu schießen... Quadrate, Kreise, Dreiecke und Bögen. Auszuschließen ist es immerhin nicht, daß man im Rahmen der polizeilichen Tätigkeit mal irgendwann von einem solchen angegriffen wird.

Da wir uns mittlerweile im 21. Jahrhundert befinden, hat bei den meisten Polizeidienststellen mittlerweile die moderne Raumschießanlage mit Beamer und diversen Videodarstellungen Einzug gehalten. Man kann böse Menschen in interaktiven Filmen auf einer Großleinwand umnieten, die je nach Knöpfchendrücken des Schießausbilders unterschiedlich reagieren, und die anatomisch korrekt umfallen, wenn man sie trifft. Sämtliche Treffer werden per Infrarotlicht registriert und sofort angezeigt. Man kann allerdings auch nach wie vor auf Kreise, Dreiecke, Quadrate und Bögen schießen, wenn man nostalgisch veranlagt ist oder wenn man (wie ich) der Meinung ist, daß interaktive Szenarien mit "lebenden" Gegenübern lieber in 3D mit FX-Waffen beim Einsatztraining gemacht werden sollen, und daß die Zeit auf dem Schießstand lieber für sinnvolles und qualitativ hochwertiges Techniktraining genutzt werden sollte.

Was sich leider trotz guter technischer Ausstattung nicht geändert hat, sind die Ansichten und Erwartungen bezüglich dessen, was denn passiert, wenn man wirklich mit einer Kurzwaffe auf einen Menschen schießt. Mittlerweile gehört es immerhin zumindest zur gängigen polizeilichen Trainingsdoktrin, daß im Falle eines Schußwaffengebrauchs so lange weitergeschossen wird, bis entweder beim Täter eine sichtbare Angriffsunfähigkeit eintritt oder der Täter von einer Fortführung des Angriffs absieht. Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, ist allerdings, wie schnell eine derartige Stoppwirkung tatsächlich zu erreichen ist.

Tatsächlich scheinen immer noch viele Leute in Polizeikreisen davon auszugehen, daß dies bereits beim ersten Treffer in einen vitalen Bereich der Fall sein wird. Diese Haltung wird im Schießtraining unterbewußt noch dadurch verstärkt, daß sämtliche Zieldarstellungen aufgrund der Programmierung der Anlage bereits nach dem ersten Treffer als neutralisiert gelten... Videodarsteller fallen um und Zielscheiben werden als getroffen markiert, wodurch in der Wahrnehmung des Trainierenden die Verknüpfung "Erster Treffer = Wirkungstreffer" verankert wird. In der bundeseinheitlichen Kontrollübung gemäß der PDV 211 findet sich dasselbe Prinzip wieder.

Auch der übertriebene "Hype" um die vor einigen Jahren flächendeckend in Deutschland eingeführte neue Einsatzmunition (Expansivgeschosse, namentlich RUAG Ammotec Action 4 und MEN PEP 2) hat nicht unwesentlich zu dieser Einschätzung der Wirksamkeit der eigenen Dienstwaffe beigetragen. Mir begegnen im täglichen Dienst regelmäßig Aussagen von Kollegen, die sinngemäß so lauten: "Wir haben doch jetzt die neue Mannstoppmunition, damit muß man doch sowieso nur ein- oder zweimal schießen, dann fällt der schon wegen der Schockwirkung um, egal wohin ich treffe."

In Wirklichkeit (und das beweisen Berichte aus dem tatsächlichen Einsatz aus aller Welt immer wieder aufs neue) verfügen Kurzwaffenkaliber lediglich über eine ziemlich unberechenbare und oftmals unbefriedigende Stoppwirkung, Geschoßform hin oder her. Und Legenden über irgendeine "Schockwirkung", die aus einer besonderen Geschoßform resultieren soll, sind eben nur das - nämlich Legenden. Ein Schock im medizinischen Sinne ist schlicht und einfach eine Unterversorgung des Gehirns mit Blut.

Diese kann (aus zielballistischer Sicht) durch einen massiven Blutverlust (hämorrhagischer Schock, ausgelöst durch eine Verletzung des Herzens oder der großen Blutgefäße) oder durch eine starke Erweiterung der Blutgefäße (neurogener/spinaler Schock, ausgelöst durch eine verletzungsbedingte Stimulierung des vegetativen Nervensystems) und ein dadurch bedingtes "Versacken" des Blutes im Körper verursacht werden.

Beide Varianten sind praktisch nicht sicher vorauszusagen. Auch Faktoren wie der körperliche und psychische Zustand und Drogen- oder Alkoholkonsum der betreffenden Person spielen eine Rolle. Hinzu kommt, daß selbst bei massivem Blutverlust durch eine Verletzung des Herzens oder der Bauchschlagader eine Handlungsunfähigkeit vermutlich frühestens nach Ablauf von zehn Sekunden eintreten wird... je nach Ausmaß der Verletzungen u.U. auch erst viel später. Insofern ist die Frage, wie oft man einen menschlichen Gegner tatsächlich beschießen muß, um eine Handlungsunfähigkeit zu erreichen, im Grunde ein Lottospiel, dessen Ergebnis nicht im Voraus berechnet werden kann.

Um mal ein Extrembeispiel zu liefern, möchte ich das hier geschilderte Ereignis anführen. Laut dem Obduktionsergebnis wurde der Täter 22-mal getroffen, davon allein 17-mal im Bereich der Oberkörpermitte. Bei den verwendeten Geschossen handelte es sich um .40 S&W Ranger SXT, die sowohl ein größeres Grundkaliber als auch bessere Expansionseigenschaften und eine größere Geschoßenergie als die Einsatzmunition deutscher Polizeibehörden aufweisen. Trotzdem blieb der Täter bis zum letzten Treffer aktionsfähig, setzte seinen Angriff auf den Polizeibeamten bis zu diesem Zeitpunkt fort und verstarb erst vier Minuten nach Ende der Auseinandersetzung.

Man kann also mit Sicherheit sagen, daß ein berechenbarer und sicherer "one-shot stop" mit einer Kurzwaffe außer durch einen direkten Kleinhirntreffer nicht zu bewerkstelligen ist (was in aller Regel technisch und taktisch nicht machbar sein wird). Tatsächlich wird man im Fall eines Schußwaffengebrauchs davon ausgehen müssen, daß zumindest eine nicht ganz unerhebliche Wahrscheinlichkeit besteht, daß eine Stoppwirkung nicht nach dem ersten Treffer eintritt und der Täter mehrfach beschossen werden muß.

Und diese Erkenntnis sollte sich auch im Training wiederspiegeln, indem die Übungen (und entsprechend auch die Programmierung der Schießanlage) so gestaltet werden, daß die Anzahl der Treffer, die für die Neutralisierung eines Ziels gefordert werden, variabel ist und mehr als einen einzigen umfassen kann. Ansonsten trainieren wir nämlich an der Realität vorbei - und zwar in einem Themengebiet, auf dem ebendas fatale Konsequenzen für uns haben kann.

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