Sonntag, 21. September 2008

Getting off the X

Lieber Leser, markiere bitte einmal ein gut sichtbares "X" auf den Fußboden. Nun stell dich auf das X und bitte deinen Kumpel, dich aus einer Entfernung von einigen Metern überraschend mit etwas anzugreifen... einem Trainingsmesser aus Gummi, einer Softair-Pistole oder was auch immer (Disclaimer: falls du diese Aufforderung wörtlich nimmst und dabei keine Schutzausstattung benutzt, bekommst du von mir keinen Cent Schmerzensgeld).

Wenn dein Kumpel ehrlich mit dir ist und dich ernsthaft angreift, wirst du feststellen, daß du im Grunde nur dann eine (kleine) Chance hast, einigermaßen "lebendig" (im simulierten Sinne) aus der Situation herauszukommen, wenn du das X möglichst schnell und dynamisch in seitlicher oder schräger Richtung verläßt und während der Bewegung deine eigene Waffe ziehst und zum Einsatz bringst.

Warum das so ist, erklärt sich im Grunde von selbst. Für einen Ziehvorgang benötigt selbst ein gut trainierter Schütze unter optimalen Bedingungen mindestens eine Sekunde. Durch mangelndes Training oder ungünstige Startbedingungen kann sich diese Zeitspanne sehr schnell auf mehrere Sekunden verlängern. Bleibst du während dieser Zeit auf dem X stehen, bietest du für mindestens eine Sekunde (eher mehr) ein vollkommen stationäres Ziel. Und jeder, der sich auch nur ansatzweise mit Selbstverteidigung oder Einsatztraining beschäftigt hat, weiß, daß unter solchen Umständen eine Sekunde durchaus eine halbe Ewigkeit sein kann. Nutzst du diese Zeitspanne dagegen für eine entschlossene Ausweichbewegung, verringerst du die Zielsicherheit deines Gegners meßbar und zwingst ihn, sich neu zu orientieren.

Letztlich sollte bei der Abwägung der Frage, ob das Ausweichen oder das Einwirken auf den Gegner wichtiger ist, die fundamentale Tatsache berücksichtigt werden, daß es sich hier nicht um eine unbewaffnete Auseinandersetzung handelt, in der man bestimmte Treffer bewußt in Kauf nehmen und wegstecken kann, sondern daß wir über einen Angriff mit einer tödlichen Waffe reden und daß ein einziger Treffer bereits für uns das Aus bedeuten kann - für immer. Unter diesen Umständen muß man zwangsläufig zu dem Schluß kommen, daß der sofortige Schutz des eigenen Lebens durch Ausweichen eine höhere Priorität hat als das unverzügliche Einwirken auf den Angreifer.

Diese Reaktion verlangt natürlich ein gewisses Training, da es unter motorischen Gesichtspunkten nicht ganz einfach ist, aus einer schnellen Bewegung heraus zuverlässig auf seine Waffe zuzugreifen und einen sicheren Griff zu erreichen. Auch das Schießen aus der Bewegung ist etwas, das einige Übung verlangt. Und schließlich muß auf einer ganz grundlegenden Ebene erstmal der Automatismus "Ich werde angegriffen, also sehe ich zuerst zu, daß ich wegkomme" geschaffen und verankert werden. Ich gebe jederzeit zu, daß ich selber auch noch viel daran zu arbeiten habe.

Leider scheinen diese simplen (und äußerst einfach nachprüfbaren) Einsichten in der polizeilichen Aus- und Fortbildung überwiegend nicht angekommen zu sein. Der hauptsächliche Anteil des polizeilichen Schießtrainings beschäftigt sich mit der Zielsetzung, aus einer komplett stationären Position heraus die Waffe zu ziehen und zu schießen, ohne auch nur im Ansatz zu berücksichtigen, daß diese Handlungsweise im Ernstfall lebensgefährlich ist. Das höchste der Gefühle ist hier ein kleiner Alibi-Ausweichschritt nach dem Ziehvorgang, nach dem wieder gemütlich stehengeblieben und das Ziel in aller Ruhe mit Blei eingedeckt wird.

Getreu dem Sprichwort "Train as you fight because in the end you'll fight as you train" wird das aber unweigerlich dazu führen, daß die oben beschriebenen überlebenswichtigen Handlungsmuster im Ernstfall bei den Kollegen nicht vorhanden sein werden. Ein einsatzmäßiges Schießtraining, das ausschließlich vor einer zweidimensionalen Filmleinwand stattfindet, auf der lustige Videoszenarios ablaufen, fördert allenfalls Auge und Waffenhandling, nicht aber taktisch sinnvolles Verhalten.

Nun mag man einwenden, daß derartige Dinge ohnehin eher in den Bereich des Einsatztrainings gehören. Diese Überlegung ist tatsächlich insofern nicht ganz falsch, als daß diese Inhalte in letzter Konsequenz nur mit Simulationswaffen und menschlichen Trainingspartnern in einer dreidimensionalen Umgebung sinnvoll vermittelt werden können - zum Beispiel mit den im SET (Systemisches Einsatztraining) verwendeten FX-Trainingswaffen.

Die Problematik setzt sich allerdings darin fort, daß derartiges "technisches" Training, also das zielgerichtete Eindrillen von simplen, grundlegenden Handlungsmustern für Hochstreßsituationen durch eine hohe Wiederholungsfrequenz auch im SET nicht stattfindet. Leider erschöpfen sich die SET-Inhalte überwiegend in umfangreichen, komplexen Vollszenarios, deren Hauptziel es ist, die Fähigkeit zum Treffen von komplexen taktischen Entscheidungen zu schulen und in denen "handwerkliche" Basisfähigkeiten wie Schießen und Waffenhandhabung bestenfalls kurz an der Oberfläche angerissen werden. Das ist selbstverständlich auch eine wichtige Sache, aber auf diese Weise wird im Prinzip ein Großteil des Trainingspotentials, das das von meinem Bundesland für viel Geld beschaffte FX-Waffensystem theoretisch bietet, gedankenlos verschwendet bzw. bleibt ungenutzt.

Was dem interessierten Beamten in letzter Konsequenz bleibt, ist nur eins: in die einschlägige US-Fachliteratur zum Thema "Force-on-force Training" einsteigen, gleichgesinnte Kollegen suchen, sich zivil erhältliche Trainingswaffen (Softair, RAM o.ä.) beschaffen und sich außerdienstlich in Eigenregie um sein Training kümmern... auch wenns mit zeitlichem und finanziellen Aufwand verbunden ist.

Schade eigentlich... denn auf diese Weise werden die von mir angesprochenen Inhalte einen Großteil der Kollegen niemals erreichen.

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