Montag, 7. Dezember 2009

Aus nächster Nähe

... durfte ein junger Mann in Berlin vorgestern nacht erfahren, was man lieber bleibenlassen sollte, wenn einem die eigene Gesundheit am Herzen liegt.

Wie die BZ schreibt, vergnügen sich der tatverdächtige 19jährige Yassin G. und seine vier Freunde mit einer Flasche Whisky in einer öffentlichen Grünanlage. Dort hält sich gleichzeitig ein Zivilfahnder der Berliner Polizei auf, der etwas entfernt von seinen Teamkollegen einen Parkplatz überwacht.

Yassin G. fühlt sich durch die Blicke des Beamten provoziert und beschließt gemeinsam mit seinen Freunden, diesen zu verprügeln. Die Gruppe greift den Beamten unvermittelt an, schlägt und tritt massiv auf ihn ein. Der Beamte kassiert schwere Treffer gegen Kopf und Körper und wird von Yassin G. in den Schwitzkasten genommen. Daraufhin zieht er seine Dienstwaffe, gibt zunächst einen Warnschuß ab und schießt Yassin G. anschließend in den Unterschenkel. Die Täter flüchten in Panik und können wenig später in Tatortnähe festgenommen werden.

Dieses Ereignis hat mich zuerst etwas überrascht. Nicht weil die Reaktion des Polizeibeamten auf den Angriff unverständlich gewesen wäre, sondern weil die Polizei in Deutschland insgesamt sehr zurückhaltend von der Schußwaffe Gebrauch macht. Im Rahmen meiner Tätigkeit als polizeilicher Schießausbilder spreche ich regelmäßig mit den Kollegen, die zu mir ins Training kommen, über ihre eigenen Einsätze, und dabei kommen immer wieder Geschichten zum Vorschein, zu denen man im Grunde nur sagen kann: "Da hättest du aus rechtlicher Sicht schießen dürfen und es auch aus taktischer Sicht tun sollen."

Die Scheu, die eigene Schußwaffe gegen einen Täter einzusetzen und anschließend die juristischen und persönlichen Folgen tragen zu müssen, ist derart groß, daß etliche Kollegen im Zweifelsfall lieber nicht schießen und den Ausgang des Einsatzes ihrem Schutzengel überlassen.

Dabei wird zumindest die juristische Seite der Angelegenheit regelmäßig deutlich kritischer wahrgenommen, als sie tatsächlich eigentlich ist. Die große Masse der aufgrund eines Schußwaffengebrauchs der Polizei eingeleiteten Ermittlungsverfahren wird bereits durch die Staatsanwaltschaft eingestellt. Insgesamt endet nur ca. 1% aller Verfahren mit einer Verurteilung des Beamten. Daraus ergibt sich, daß in der Masse der Fälle, nämlich bei denjenigen Fällen, in denen der Schütze nach normalem Rechtsempfinden und gesundem Menschenverstand gehandelt hat, das Risiko nachteiliger juristischer Folgen äußert gering ist.

Die Hemmschwelle, die eigene Schußwaffe einzusetzen, ist also derart hoch, daß die Entscheidung zum Schußwaffengebrauch von den meisten Kollegen erst dann getroffen wird, wenn sie sich in massiver Lebensgefahr wähnen (im Regelfall durch einen Angriff mit einem gefährlichen Gegenstand). Dabei wird die Gefährlichkeit von bestimmten Situationen und Handlungen oft massiv unterschätzt. Ein mir bekannter Kollege (ebenfalls Schießtrainer) mit einer zweistelligen Anzahl an Dienstjahren auf der Straße verstieg sich unlängst sogar zu der abstrusen Äußerung, ein Schußwaffengebrauch sei für ihn nur dann gerechtfertigt, wenn er mit einem "richtig großen" Messer angegriffen würde, da die Justiz von ihm ja verlange, einen Angriff mit einem "kleinen Taschenmesser" nötigenfalls mit anderen Einsatzmitteln abzuwehren.

Von dem Unsinn dieser Einstufung von Messern in "gefährlich" und "weniger gefährlich" mal ganz abgesehen, wird diese Grundhaltung der Problematik nicht wirklich gerecht. Die einschlägigen Polizeigesetze der einzelnen Bundesländer lassen nämlich regelmäßig einen (auch mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlichen) Schußwaffengebrauch gegen Personen auch zur Abwehr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit zu.

Damit bewegen wir uns aus taktischer Sicht aber auf einem Gefährdungslevel, das durchaus auch schon im Rahmen eines unbewaffneten Angriffs (z.B. durch einen körperlich erheblich überlegenen Angreifer oder mehrere gemeinschaftlich handelnde Täter) verwirklicht werden kann, und mittlerweile immer häufiger im polizeilichen Alltag auftaucht. Die diversen medial breitgetretenen Vorfälle aus den letzten Monaten und Jahren, bei denen einzelne Opfer durch mehrere (meist angetrunkene) Gewalttäter zusammengetreten und dabei teilweise schwerstverletzt oder getötet wurden, belegen, daß ein gewaltsamer Angriff mehrerer Personen auf ein einzelnes Opfer immer als eine extrem gefährliche Situation gewertet werden muß.

Insofern komme ich nach anfänglicher Überraschung über die (in meinen Augen völlig richtige und nachvollziehbare) Reaktion des Berliner Zivilbeamten zu der Ansicht, daß wir zukünftig vermutlich deutlich mehr derartige Vorfälle erleben werden. In Zeiten, in denen die Gewalt auf der Straße im Allgemeinen und gegen Polizeibeamte im Besonderen jährlich zunimmt und massive gewalttätige Übergriffe aus Gruppen heraus gegen polizeiliche Einsatzkräfte auch bei Routineeinsätzen wie Ruhestörungen oder Streitigkeiten zur Regel werden, wird sich auch bei der Polizei mittelfristig die Ansicht durchsetzen, daß der rechtzeitige Einsatz der Schußwaffe auch in solchen Fällen unter Umständen die einzige Möglichkeit ist, den Einsatz ohne eigene schwerwiegende Verletzungen zu überstehen.

Das ist unschön, und der eine oder andere kritische Leser mag mir jetzt womöglich vorwerfen, daß ich den vielgeschmähten amerikanischen Verhältnissen das Wort rede, und wir uns ja schließlich nicht in South Central L.A. befinden. Dem kann ich nur entgegnen, daß eine solche Situation ihrer Natur nach weder amerikanisch noch deutsch noch fidjianisch ist, sondern schlicht und einfach eine logische Konsequenz bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt, die sich in Deutschland schon seit Jahren ankündigen.

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